Am 16. Mai starteten die bis 22. Juni andauernden Wiener Festwochen 2025 mit einer Reihe fulminanter musisch-künstlerischer Acts am Rathausplatz in Wien. Die Wiener Festwochen 2025 präsentieren sich unter dem Motto „V is for LoVe“ als ein Festival, das die Liebe in all ihren Facetten verhandelt – politisch, künstlerisch, persönlich. Intendant Milo Rau führt damit seine aktionistische Linie fort, indem er die Festwochen nicht nur als Veranstaltungsreihe, sondern als symbolische „Republik der Liebe“ inszeniert. Schon die Programmpräsentation war performativ: ein schamanisches Reinigungsritual sollte den Geist des Faschismus aus dem einstigen Funkhaus vertreiben – einem Ort, der heuer als Herzstück der Festwochen fungiert.
Programm und Informationen finden Sie unter: festwochen.at

Die Festivaleröffnung am 16. Mai auf dem Rathausplatz markierte den Beginn dieser symbolischen Republik – als transkultureller Song Contest mit Blasmusik, Punk, Pop, Klassik und prominenten Künstlerinnen und Künstlern wie Laurie Anderson, Soap&Skin, Nicole und Conchita Wurst. Der Eintritt war wie bei über 100 weiteren Veranstaltungen frei, ein deutliches Zeichen für die Offenheit, die die Wiener Festwochen vermitteln und leben.
Mit insgesamt 155 Veranstaltungen, darunter elf Weltpremieren und zehn Eigenproduktionen – so viele wie nie zuvor – fächern die Wiener Festwochen 2025 ein Programm auf, das künstlerische Vielfalt mit gesellschaftlicher Relevanz verbindet. Besonders sichtbar wird das bei Milo Raus aufsehenerregender Rekonstruktion des „Prozesses Pelicot“, der auf realen Gerichtsprotokollen rund um den 2024 in Frankreich hochgekommenen Missbrauchsfall basiert und von einer langen, systematischen Gewalterfahrung erzählt. Zwei rituelle Lesenächte, eine davon mit Mavie Hörbiger, bringen dieses Thema auf bewegende Weise zur Bühne. Auch die Inszenierung von Elfriede Jelineks „Burgtheater“, mit der Hörbiger-Enkelin selbst in einer zentralen Rolle, ist bereits ausverkauft – ein Beweis für die starke Resonanz auf die prominent besetzten Produktionen.

Neben den großen Theaterereignissen wie Kurdwin Ayubs „Weiße Witwe“, dem immersiven Altersheim-Projekt „Das letzte Jahr“ von Signa oder der Shakespeare-Adaption „Richard III.“ von Itay Tiran, die mit einem politischen Blick auf Netanjahus Israel versehen ist, kommen auch leise, intime Produktionen zum Zug. In „No Yogurt for the Dead“ verarbeitet Tiago Rodrigues den späten Versöhnungsmoment mit seinem Vater, Mario Banushi verabschiedet sich wortlos von einer Stiefmutter in „Goodbye, Lindita“ und „The Grief of Red Granny“ bringt afrikanische Bestattungsrituale auf die Bühne. Die Festwochen scheuen nicht davor zurück, auch die dunkleren Seiten von Liebe zu thematisieren – Abhängigkeit, Gewalt, Trauer. Das zeigt sich exemplarisch in der 24-Stunden-Performance „The Second Woman“, in der Pia Hierzegger dieselbe Szene hundertmal mit jeweils neuen, unbekannten Partnern spielt.

Auch musikalisch ist das Festival breit aufgestellt: In der Konzertreihe „Healing“ (jeden Donnerstag während der Festwochen 2025) sowie den sonntäglichen „Lagerfeuer“-Events wird das ehemalige Funkhaus zur Basis für gemeinschaftliche Begegnung und Heilung durch Musik. In der „Akademie Zweite Moderne“ entstehen neue Werke zeitgenössischer Komponistinnen, während der Club der Republik das nächtliche Festivalleben belebt. Dabei betont Milo Rau: Die „Republik der Liebe“ sei keine Feel-Good-Veranstaltung, sondern eine politische Antwort auf Polarisierung und Sprachlosigkeit. Formate wie die „Wiener Kongresse“, inszenierte Tribunale zu Themen wie „Cancel Culture“ und Machtmissbrauch in der Kunst, oder das Symposium „Revolutionary Love“ mit Denkerinnen wie Eva Illouz und James Bridle rücken den kritischen Diskurs in den Mittelpunkt.
Die Wiener Festwochen 2025 erweisen sich somit als Festival der Extreme, das nicht nur Theater, Musik und Performance zeigt, sondern auch als gesellschaftliches Experiment gedacht ist. Die Vielfalt der Spielstätten – vom Burgtheater über die Lugner City bis zur Donauinsel – spiegelt die Absicht wider, die Stadt in all ihren sozialen, kulturellen und geografischen Facetten einzubeziehen. Die „Republik der Liebe“ ist keine Utopie fern der Realität, sondern ein Versuch, durch Kunst neue Räume des Dialogs und der Verbindung zu schaffen – offen, diskursiv, widersprüchlich, lebendig.
Fester Bestandteil der Wiener Festwochen ist mittlerweile die sogenannte Rede an Europa. Seit 2019 liefert die von der ERSTE Stiftung initiierte Rede an Europa eine grundsätzliche Reflexion zur Gegenwart und Zukunft Europas. Als Ort dient der Wiener Judenplatz, der daran erinnert, dass Europa nur im Spiegel seiner Geschichte verstanden werden kann. Nach dem amerikanischen Historiker Timothy Snyder, der ukrainischen Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Matwijtschuk und dem israelisch-deutschen Philosophen Omri Boehm hielt in diesem Jahr die albanisch-britische Politikwissenschaftlerin und Philosophin Lea Ypi die Rede an Europa über Migration und Staatsbürgerschaft im 21. Jahrhundert.

Darin fordert sie Migration und Identität nicht in starren Kategorien von „gut“ oder „schlecht“ zu betrachten. Am Beispiel von Lessings „Nathan der Weise“ und aus ihrer eigenen Erfahrung als Migrantin argumentiert sie, dass Zugehörigkeit für viele Menschen ein ständiges Streben bleibt und Migration eine existenzielle Erfahrung von Offenheit und Entfremdung zugleich ist. Ypi kritisiert die selektive Einwanderungspolitik Europas, die Hochqualifizierte anzieht, aber die Verwundbarsten ausgrenzt, und sieht darin eine Fortsetzung von Ausbeutung und Doppelmoral. Sie erinnert daran, dass die Ideale der Aufklärung – Menschlichkeit, Vernunft und Toleranz – nicht nur verteidigt, sondern auch auf die Herausforderungen von Migration und globaler Gerechtigkeit angewendet werden müssen.
Ypis Appell an Europa ist philosophisch grundiert: Statt sich auf nationale oder kulturelle Identitäten zu beschränken, sollte Europa das Ideal des Menschseins in den Mittelpunkt stellen und Migration als Teil einer gemeinsamen, offenen Zukunft begreifen. Sie warnt davor, Migration moralisch zu bewerten oder als Bedrohung zu inszenieren – das verhindere echte Solidarität und blockiere gesellschaftlichen Fortschritt. Nur wenn Europa bereit ist, die eigene Geschichte kritisch zu reflektieren und die Prinzipien der Aufklärung neu zu denken, kann es den Herausforderungen der Gegenwart gerecht werden.
Quellen: Wiener Festwochen mit elf Weltpremieren – wien.ORF.at | Auftakt für „Republik der Liebe“ – wien.ORF.at | Festwocheneröffnung verbindet Genres – wien.ORF.at | Wiener Festwochen und der Drahtseilakt Liebe – ORF Topos | festwochen.at