„80|70|30“ – Im heurigen Jahr präsentieren wir in unserem Newsletter eine dreiteilige Themenreihe zu geschichtsträchtigen Jährungen unserer Republik. Das heurige Gedenkjahr 2025 markiert drei zentrale Stationen der österreichischen Geschichte. Wir berichteten über 80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg (1945), die Unterzeichnung des Staatsvertrags (1955) und beenden diese Reihe mit dem 30-jährigen Jubiläum des österreichischen EU-Beitritts im Jahr 1995. Der Auslandsösterreicher und Historiker Michael Gehler sprach dazu bei einem Festakt Anfang Mai diesen Jahres in Innsbruck: Lesen Sie über Österreichs Weg in die Europäische Union – einem komplexen Prozess, begleitet von politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen.

Auch der kürzlich von statten gegangene Nationalfeiertag am 26. Oktober begeht in diesem Jahr ein Jubiläum – erst 10 Jahre nach Unterzeichnung des Staatsvertrages wurde 1965 das Bundesgesetz vom 25. Oktober 1965 über den österreichischen Nationalfeiertag beschlossen. Damit ist der Nationalfeiertag seither ein Symbol für die Unterzeichnung des Staatsvertrages und die immerwährende Neutralität.
Der Präsident des Auslandsösterreicher-Weltbundes Werner Götz war beim Festakt zum Gedenkjahr in der Tiroler Landeshauptstadt ebenfalls zu Gast. Eine österreichische und im speziellen Tiroler Perspektive lieferte der in Innsbruck geborene und in Deutschland lehrende Professor für Deutsche und Europäische Geschichte Michael Gehler bei einem Vortrag im Tiroler Landhaus.

Drei Jahrzehnte nach dem EU-Beitritt zieht Österreich Bilanz: Der Schritt nach Brüssel brachte wirtschaftliche Öffnung, politische Mitgestaltung in Europa und neue Perspektiven für Regionen und Menschen – zugleich für manche aber auch ein spürbares Gefühl von Fremdbestimmung und Souveränitätsverlust. Der EU-Beitritt am 1. Jänner 1995 veränderte unser Land tiefgreifend – er stärkte internationale Kooperationen, exportorientierte Branchen und den europäischen Gedanken, während er zugleich die Frage nach der Rolle der österreichischen Neutralität und nationalen Identität neu stellte.
Zeithistoriker Gehler: 30 Jahre Österreich in der EU – Zwischen Aufbruch, Identität und Skepsis
Am 1. Jänner 1995 trat Österreich der Europäischen Union bei – ein Schritt, der das Land politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich tiefgreifend veränderte. Heute blicken wir auf diesen historischen Moment zurück und entdecken ein facettenreiches Bild des Weges Österreichs nach Europa – von den zähen Verhandlungen über den emotionalen Volksentscheid bis zu langfristigen Folgen für die Identität und Souveränität der Österreicherinnen und Österreicher.

Der Beitritt Österreichs zur Europäischen Union war kein spontaner Schritt, sondern das Ergebnis einer langen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Bereits seit den 1970er Jahren war das Land informell in das europäische Währungssystem eingebunden. Am 17. Juli 1989 brachte Außenminister Alois Mock (ÖVP) – gemeinsam mit Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) – den formellen Antrag auf Mitgliedschaft in den Europäischen Gemeinschaften ein. Symbolträchtig datiert auf den 14. Juli, den französischen Nationalfeiertag, spiegelte er Österreichs proeuropäische Haltung und den Wunsch nach engerer Einbindung in den Westen wider. Professor Gehler erinnert daran, dass dieser „Brief nach Brüssel“ nicht überall Begeisterung auslöste. In den damaligen EG-Staaten herrschte Skepsis: Unter Kommissionspräsident Jacques Delors konzentrierte sich die Gemeinschaft auf Vertiefung statt Erweiterung, und vor allem die französische Diplomatie reagierte zurückhaltend. Dennoch gelang es der österreichischen Regierung, durch außenpolitisches Geschick und parteiübergreifende Geschlossenheit die Weichen für den Beitritt zu stellen.
Der Beitrittsprozess vollzog sich in mehreren aufeinander aufbauenden Etappen. Diese waren eine intensivierte innenpolitische Europadiskussion in Österreich, das klare Bekenntnis der Großen Koalition (ÖVP und SPÖ) zur Integration, der Bewertungsprozess durch die Europäische Kommission, die Beteiligung am Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ab 1992 als Vorstufe zur EU-Mitgliedschaft und schließlich die eigentlichen Beitrittsverhandlungen von 1993 bis 1994. Während ÖVP und SPÖ dabei eine proeuropäische Haltung vertraten, schlug die FPÖ unter Jörg Haider einen zunehmend EU-skeptischen Kurs ein. Umso wichtiger war die Einigkeit der beiden großen Parteien, die flankiert von Wirtschaft, Industrie und Medien mit einem geschlossenen Pro-Europa-Kurs an die Öffentlichkeit traten.
Ein entscheidendes Thema der Verhandlungen war die Vereinbarkeit der österreichischen Neutralität mit der EU-Mitgliedschaft – wir berichteten über das 70-jährige Jubiläum des österreichischen Staatsvertrags. Diese Frage beschäftigte nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die Diplomatie in Moskau, Paris und Rom. Unter Michail Gorbatschow gab es schließlich von sowjetischer Seite kein Veto mehr. Damit fiel die letzte Hürde: Die „immerwährende Neutralität“ blieb bestehen – allerdings in einer neuen, europäischen Auslegung.

Anlässlich des Festakts in Innsbruck wurde der Fokus auch auf die Beiträge Tirols und Südtirols zur europäischen Integration gelegt. Gerade Tirol war traditionell eine Region mit starkem Europabewusstsein – auch, weil hier die historische „Brennergrenze“ immer als trennendes und zugleich verbindendes Symbol galt. Die Streitbeilegungserklärung zur Südtirol-Frage, die Österreich 1992 vor der UNO abgab, schuf die Voraussetzung für den Beitritt. Erst damit konnte das Kapitel jahrzehntelanger Spannungen zwischen Wien, Rom und Bozen abgeschlossen werden.
Nach schwierigen Verhandlungen – etwa über Landwirtschaft, Transitverkehr, Umweltauflagen und Zweitwohnsitze – gelang im Frühjahr 1994 der Durchbruch. Trotz gesundheitlicher Probleme führte Alois Mock die Gespräche mit großem persönlichem Einsatz zu Ende. Am 12. Juni 1994 stimmte das österreichische Volk ab: 66,6 Prozent sagten Ja zum EU-Beitritt, bei einer Wahlbeteiligung von über 82 Prozent. In Tirol war die Zustimmung mit 56,7 Prozent am niedrigsten, aber immer noch mehrheitlich positiv. Die offizielle Unterzeichnung der Beitrittsverträge erfolgte am 24. Juni 1994 auf Korfu, der Beitritt trat am 1. Jänner 1995 in Kraft. Acht Tage später war Österreich auch formell Teil des Europäischen Währungssystems und der Euro löste damit den Österreichischen Schilling ab.
Der EU-Beitritt war allerdings weit mehr als ein wirtschaftliches Projekt. Er initiierte den Wandel hin zu einer neuen Österreichischen Identität: „Mit Europa deutete sich eine Ersatzidentität für die scheinbar an Bedeutung verlierende Neutralität an.“ Nach dem Ende des Kalten Krieges verlor das klassische Neutralitätsverständnis an Gewicht – Europa wurde zur neuen Bezugsgröße des nationalen Selbstverständnisses. Heute erleben die Österreicherinnen und Österreicher bezüglich der Neutralität aufgrund wandelnder geopolitischer Entwicklungen und des Krieges in Europa wieder andere Perspektiven.
Neben der zahlreichen positiven Auswirkungen der Integration Österreichs in die gemeinschaftliche europäische Architektur skizziert Professor Gehler allerdings auch andauernde Herausforderungen. Der EU-Beitritt brachte für manche spürbare Souveränitätseinbußen, etwa beim Transitverkehr durch Tirol. Das 1992 ausgehandelte „Ökopunktesystem“, das die Schadstoffbelastung auf den Alpenrouten senken sollte, blieb mancher Einschätzung nach weitgehend wirkungslos. Gerade in Tirol wurde der EU-Beitritt deshalb ambivalent gesehen – zwischen ökologischer Belastung und wirtschaftlichen Chancen.
Mit dem Beitritt begann aber auch die Erfolgsgeschichte der Europaregion Tirol–Trentino–Südtirol, gegründet 1995. Unter den Landeshauptleuten Wendelin Weingartner und Luis Durnwalder fiel am Brenner symbolisch der Schlagbaum. Aus einer „geistig-kulturellen Landeseinheit“, wie sie Eduard Wallnöfer in den 1970er-Jahren gefordert hatte, wurde nun ein konkretes politisches Projekt.
30 Jahre nach diesen Entwicklungen zieht der Historiker Gehler ein differenziertes Fazit: Österreich habe in der EU bewiesen, dass Kooperationen mit kleinen und mittleren Staaten erfolgreicher seien als nationale Alleingänge. Zugleich habe sich auch ein neuer Österreich-Patriotismus entwickelt – als Reaktion auf den gefühlten Kontrollverlust durch die EU-Politik aus Brüssel. Die Spannungen zwischen europäischer Integration und nationaler Selbstbehauptung blieben bestehen. Dennoch überwiegt für Gehler das Positive: „Österreich ist als Ganzes in der EU angekommen und hat sich in der europäischen Vereinigung wiedergefunden.“ Dreißig Jahre nach dem Beitritt sei die europäische Idee nicht nur ein politisches, sondern auch ein kulturelles Fundament geworden – für Tirol, für Österreich und für das gemeinsame Europa.
Den Vortrag im Tiroler Landhaus hielt:
Prof. Dr. Michael Gehler
Jean Monnet Chair
Institut für Geschichte
Universität Hildesheim
Quellen: Denktage 80|70|30: Festakt am Landhausplatz | Land Tirol | Eine Institution wird 60 – science.orf.at | Haus der Geschichte Österreich – EU Beitritt | Parlamentsdirektion

