„80|70|30“ – In unserem letzten Newsletter starteten wir unter diesem Schlagwort eine dreiteilige Themenreihe zu geschichtsträchtigen Jährungen der Republik im Jahr 2025. Das heurige Gedenkjahr markiert drei zentrale Stationen der österreichischen Geschichte: 80 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg (1945), die Unterzeichnung des Staatsvertrags (1955) und den EU-Beitritt Österreichs (1995). Der Auslandsösterreicher und Historiker Michael Gehler sprach dazu bei einem Festakt Anfang Mai in Innsbruck: Lesen Sie über Österreichs so wichtigen Weg zu Freiheit und Neutralität – eingeleitet durch den Staatsvertrag 1955.
Auch der Präsident des Auslandsösterreicher-Weltbundes Werner Götz war beim Festakt zum Gedenkjahr in der Tiroler Landeshauptstadt zu Gast. Eine österreichische und im speziellen Tiroler Perspektive lieferte der in Innsbruck geborene und in Deutschland lehrende Professor für Deutsche und Europäische Geschichte Michael Gehler bei einem Vortrag im Tiroler Landhaus.

Mit dem Staatsvertrag wurde 1955 Österreichs Souveränität nach dem Zerfall des nationalsozialistischen Staates wiederhergestellt – ein Schlüsselmoment der Zweiten Republik. Auch das darin verankerte Neutralitätsgesetz bildet seither eine tragende Säule der politischen Identität des Landes. Verteidigungsministerin Tanner verwies auf die bleibende Bedeutung dieses historischen Schritts: „Der Staatsvertrag war das Tor zur österreichischen Freiheit. Er steht sinnbildlich für ein demokratisches Österreich, das aus den Trümmern des Krieges gewachsen ist. […] Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diesen Geist der Souveränität und des Miteinanders weiterzutragen – heute mehr denn je.“

Zeithistoriker Gehler: 70 Jahre Staatsvertrag – Einigkeit, Mut und Zukunft
Am 15. Mai 1955 wurde im Schloss Belvedere in Wien ein Dokument unterzeichnet, das Österreichs Geschichte nachhaltig prägen sollte: der österreichische Staatsvertrag. Zum 70-jährigen Jubiläum dieses historischen Moments blickte der Historiker Professor Michael Gehler in seinem Vortrag auf die komplexe Vorgeschichte, die politischen Verhandlungen und die Bedeutung dieses Vertrages für Österreich und insbesondere für Tirol zurück.

Zehn Jahre nach Kriegsende befand sich Österreich in einem politischen Schwebezustand – zwischen „Befreiung“ und echter „Freiheit“. Die Alliierten und Siegermächte des Zweiten Weltkrieges – USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion – hielten das Land seit 1945 militärisch besetzt. Tirol und Vorarlberg waren unter französischer Verwaltung, die Steiermark und Kärnten standen unter britischer Administration, während Salzburg und weite Teile Oberösterreichs von den Amerikanern kontrolliert wurden und die sowjetischen Truppen im Osten – in Niederösterreich, Wien und dem Burgenland – deutlich stärker präsent waren.

In der Bevölkerung herrschte ein gemischtes Empfinden: Während man sich im Westen eher als „befreit“ sah, empfanden viele die sowjetische Präsenz im Osten als erneute Fremdherrschaft. In seinem Vortrag betonte Gehler, dass der Staatsvertrag nicht nur das Ergebnis günstiger geopolitischer Entwicklungen war, sondern vor allem auch einer geschlossenen österreichischen Innenpolitik. Die Große Koalition aus ÖVP und SPÖ präsentierte sich entschlossen und einig – ein politisches Fundament, das es so seit dem Ende des Ersten Weltkriegs nicht gegeben hatte.
Drei Voraussetzungen führten zum Erfolg: Erstens die westliche Orientierung Österreichs, zweitens die Zusage der „immerwährenden Neutralität“ – eine zentrale Bedingung der Sowjetunion – und drittens die innenpolitische Einigkeit, mit der das Land auftrat. Vor allem letzteres war entscheidend: Ohne die Einigung über die außenpolitische Linie und die aktive Beteiligung westlicher Bundesländer – besonders Tirol – wäre der Vertrag nicht zustande gekommen.
Besonderes Augenmerk legte Gehler in seiner Rede auf die Rolle Tirols und seines politischen Personals. Der ehemalige Widerstandskämpfer und spätere Außenminister Karl Gruber spielte eine zentrale Rolle in den frühen Vertragsverhandlungen. Bereits 1949 war ein Vertragsentwurf unterschriftsreif, doch der eskalierende Kalte Krieg – Berlin-Blockade, Koreakrieg – verzögerte den Abschluss um Jahre. Gruber trat 1953 zurück, doch seine diplomatische Vorarbeit legte den Grundstein für den späteren Erfolg seines Nachfolgers Leopold Figl. Figl war es, der schließlich am 15. Mai 1955 im Marmorsaal des Oberen Belvedere die Worte sprach, die sich in das kollektive Gedächtnis des Landes einprägten: „Österreich ist frei!“

Ein weiterer Tiroler mit Bedeutung: Ludwig Steiner, ehemals Widerstandskämpfer, gehörte zur österreichischen Delegation, die im April 1955 nach Moskau reiste. Dort wurde der sowjetischen Führung die Neutralität Österreichs verbindlich zugesichert – nach dem Modell der Schweiz. Damit war der Weg frei für den Vertrag. Mit dem Bundesverfassungsgesetz über die immerwährende Neutralität, beschlossen am 26. Oktober 1955, wurde die letzte Voraussetzung erfüllt, und die letzten Besatzungssoldaten verließen Österreich. Noch im Dezember trat Österreich der UNO bei – ein weiterer Schritt in die internationale Staatengemeinschaft.
Gehler ordnet die Neutralität nicht nur als diplomatische Lösung ein, sondern als Element nationaler Identität. Sie wurde – zunächst wenig populär – im Laufe der Jahrzehnte zum unverzichtbaren Teil des österreichischen Selbstverständnisses. In einem Zeitzeugengespräch sagte Ludwig Steiner einmal: „Hätten wir damals eine Volksabstimmung über die Neutralität abgehalten, wir wären über eine Mehrheit nicht sicher gewesen.“ Heute sei sie politisch kaum angreifbar.
Im Rückblick hebt Gehler hervor, wie entscheidend Kompromissfähigkeit, außenpolitische Geschicklichkeit und der politische Schulterschluss der Koalition für den Erfolg waren. Gleichzeitig kritisiert er, dass die „Opferthese“ – die Darstellung Österreichs als erstes Opfer des Nationalsozialismus – genutzt wurde, um sich von Deutschland abzugrenzen und sich von der Verantwortung für NS-Verbrechen zu distanzieren. Die Rolle zahlreicher Österreicher als Täter wurde dabei bewusst ausgeblendet.
Mit dem Staatsvertrag begann eine neue Ära für Österreich: Es war nicht mehr besetztes Land, sondern souveräner Staat, der seinen eigenen Weg gehen konnte – in Neutralität und mit dem Ziel, sich aktiv in die westliche Staatengemeinschaft zu integrieren. Für Tirol war dies nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich bedeutend: Der amerikanische Marshall-Plan unterstützte den Wiederaufbau, besonders im Bereich der Tourismus- und Verkehrsinfrastruktur.
70 Jahre nach der Unterzeichnung des Staatsvertrags bleibt dessen Bedeutung ungebrochen. Es war der Beginn einer neuen politischen Ordnung, Grundlage für Österreichs internationale Rolle und Voraussetzung für spätere Entwicklungen wie den EU-Beitritt 1995 40 Jahre später – wir berichten darüber im nächsten Newsletter. Professor Gehler appelliert, sich der historischen Leistung bewusst zu sein – und sie als Beispiel für politische Einigkeit, Mut und Zukunftsorientierung in Erinnerung zu behalten.
Den Vortrag im Tiroler Landhaus hielt:
Prof. Dr. Michael Gehler
Jean Monnet Chair
Institut für Geschichte
Universität Hildesheim
Quellen: Denktage 80|70|30: Festakt am Landhausplatz | Land Tirol | Ein starkes Zeichen des Gedenkens mit mehr als 20.000 Teilnehmer:innen | „Fest der Freude“: Tausende Besucher:innen feierten trotz eisiger Kälte die Befreiung vom Nationalsozialismus