Franz Kafka starb am 3. Juni 1924. In den Dreißigerjahren hatte die Welt ihn lesen gelernt, seither bemüht sie sich, ihn zu verstehen. Und die Literatur steht in seinem Schatten.
Am Montag, den 3. Juni, vor hundert Jahren starb Franz Kafka, und es ist seitdem oft erzählt worden, wie das, was seinen Nachruhm als Schriftsteller begründet hat – die drei Romanfragmente „Der Verschollene“ (früher bekannt als „Amerika“), „Der Prozess“ und „Das Schloss“ –, gegen den Willen ihres Verfassers auf uns gekommen ist. Max Brod als der von Kafka mit der gewünschten Vernichtung der Manuskripte Betraute hatte schon wenige Monate nach dem Tod seines Freundes öffentlich erklärt, warum er sich über diesen Wunsch des Verstorbenen hinwegsetzen werde. Leser auf der ganzen Welt schulden ihm Dank dafür.
In den Dreißigerjahren hatte die Welt Kafka lesen gelernt, in den Jahrzehnten seither bemüht sie sich, ihn zu verstehen. Das hat Rivalitäten – nirgendwo in der literaturwissenschaftlichen Forschung herrscht so viel Feindschaft wie unter Kafka-Experten – genauso hervorgebracht wie Trivialitäten. Doch die Provokation, die dieses früh abgebrochene, gleichwohl formvollendete Schaffen darstellt, ist literarisch hochproduktiv: Gerade weil wir nicht wissen, wie Kafka sich eigene gelungene Romane vorgestellt hätte, fühlen sich Schriftsteller aller Kulturkreise berufen, mit ihren Büchern das fortzuschreiben, was er begründet, aber eben nie beendet hat: eine Literatur der schwarzen Moderne. Zeitlos auch deshalb, weil sie leider auf unsere Gegenwart genauso passt, wie sie seit 1924 noch jeder Generation zeitgemäß erscheinen musste. Man wünscht es sich anders, aber man wünscht sich keine andere Literatur. Die, die wir kennen, steht im produktiven Schatten Kafkas.
Und Schriftsteller auf der ganzen Welt, denn Kafka hat mit seinem Werk in einem Ausmaß Epoche gemacht, das unter seinen schreibenden Zeitgenossen nur mit dem Einfluss vergleichbar ist, den Marcel Proust, James Joyce oder Virgina Woolf ausgeübt haben und bis heute ausüben. In der modernen deutschsprachigen Literatur steht Kafka sogar beispiellos da. Thomas Mann und Robert Musil mögen ähnlich hoch angesehen sein, aber vergleichbar stilprägend sind sie nie geworden, geschweige denn international.
Das hat seinen Grund in einem simplen Faktum: Kafka ist zeitlos. Und das buchstäblich, denn in keinem seiner Romane wird die Handlung jemals zeitlich situiert. So sind die beiden berühmten K.s – der Bankangestellte Josef K. aus „Der Prozess“ und der vornamenlose Landvermesser K. aus „Das Schloss“ – eher zu Inbegriffen einer Weltwahrnehmung geworden als zu Individuen. Und obwohl Karl Roßmann, der Verschollene aus dem gleichnamigen Roman, als Einwanderer in die Vereinigten Staaten kommt, also ein typisches Schicksal aus der Zeit der Entstehung dieses Romans erlebt, bietet Kafkas imaginäres Amerika ein derart phantastisch-groteskes Erscheinungsbild, dass man sich als Leser eher in einem Themenpark wähnt als in der Wirklichkeit. Alles bei Kafka sendet die Botschaft aus: Ich bin Allegorie.
Kafkas Zeit brach sofort mit seiner Literatur an
Das gilt noch mehr für die Erzählungen, von denen immerhin die berühmtesten noch zu Lebzeiten des Autors erschienen sind, also als autorisiert gelten dürfen (auch wenn Kafka sich in seinen Testamentbriefen an Brod auch ihnen gegenüber skeptisch äußerte): „Das Urteil“, „Vor dem Gesetz“, „Die Verwandlung“, „In der Strafkolonie“, „Ein Hungerkünstler“. Auch darin entzieht sich jeweils die gnadenlose Konsequenz der Ereignisse jeder zeitlichen Festlegung, und dadurch werden sie universell auslegbar und einsetzbar. So wenig Publikum Kafka unmittelbar auch gefunden hatte – der ebenso ent- wie begeisterte Zuspruch einiger Schriftstellerkollegen, darunter Musil und Franz Werfel, für seine spärlichen Publikationen zu Lebzeiten hat ihn zwar keines Besseren betreffs der negativen Selbsteinschätzung belehrt, zeigt aber, dass dieser zeitlose Schriftsteller nicht erst darauf hat warten müssen, dass seine Zeit kam. Sobald sein Werk in die Welt trat, war sie angebrochen.
Das scheint einer bekannten Sentenz von Hannah Arendt zu widersprechen, die im New Yorker Exil des Jahres 1944 festgestellt hatte, dass erst mit den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und dem Bekanntwerden des Ausmaßes der nationalsozialistischen Verbrechen die Welt eingeholt habe, was Kafka ihr prophezeite. Es gilt dabei jedoch zu unterscheiden zwischen dem literarischen Enthusiasmus, den Kafka ausgelöst hat (und als Arendt das schrieb, war er dank des Erfolgs der postum erschienenen Romane längst weit über den deutschen Sprachraum hinaus bekannt), und der philosophischen Desillusionierung angesichts der prognostischen Kraft seiner literarischen Phantasie, die wichtiger für den Existenzialismus gewesen ist als der diesbezüglich so oft beschworene Albert Camus. Der seinerseits ein Bewunderer Kafkas war, wie sein seit 1948 in „Der Mythos des Sisyphos“ aufgenommener Essay über den Prager Schriftsteller belegt.
Quelle:
Warum Franz Kafka hundert Jahre nach seinem Tod so bedeutend ist (faz.net)