Kaum eine Debatte ist so klischeebehaftet wie der jahrhundertealte Streit Stadt versus Land. Arrogante Weltfremde aus der Stadt versus rückständige, intolerante „Hinterwäldler“ vom Land. Doch wie sieht das bei den Jungen aus? Was spricht für das Landleben, was für die Stadt?

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„Pulsierendes Zentrum, sterbende Peripherie? Leben wir in einer gleichsam zerschnittenen Welt?“ Diese Fragen stellten sich die diesjährigen Europäischen Literaturtage, die von 7. bis 10. November in Krems an der Donau stattfanden. Sie griffen damit ein Thema auf, das seit Jahrzehnten nicht nur in der österreichischen Literatur – von Thomas Bernhards „Städtebeschimpfungen“ bis zu Reinhard Kaiser-Mühleckers Landvermessungen – einmal mehr, einmal weniger heiß diskutiert wird: die Kluft zwischen Stadt und Land.

Die Debatte ist voll mit Bildern und Vorurteilen, gegenseitig beäugt man sich oft kritisch. Zuletzt flammte die Stadt-Land-Debatte nach der Nationalratswahl wieder auf und zementierte das Klischee vom konservativen, rechten Land und der toleranten, liberalen Stadt.

Vom Land in die Stadt

Klar ist: Einige ländliche Regionen kämpfen seit Jahren gegen Abwanderung und für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur – vom Nahversorger bis zum Kindergarten. Dabei ist Österreich nicht allein davon betroffen, Abwanderung ist ein globales Phänomen und hat seit den 1990er Jahren zugenommen. Vor allem junge Menschen ziehen aufgrund von Ausbildung oder Arbeit vom Land in die Stadt, erklärt Birgit Aigner-Walder, Volkswirtin an der Fachhochschule Kärnten.

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Negative Entwicklungsspirale

Wanderungsbewegungen sind langfristige Prozesse, Gründe und Auswirkungen vielschichtig. „Gewisse Entwicklungen wird man nicht aufhalten können“, sagt Aigner-Walder. Die Volkswirtin forscht zum Thema Überalterung, Abwanderungsregionen sind davon besonders betroffen. Es fehle vielerorts an Menschen im erwerbsfähigen Alter, was dazu führen kann, dass Unternehmen wegziehen oder schließen, so Aigner-Walder im Gespräch mit ORF Topos.

„Ursprünglich planen viele gar nicht, langfristig am neuen Wohnort zu bleiben. Aber man verbringt dann einige Jahre dort, knüpft soziale und berufliche Kontakte, und dann setzt ein Prozess des Sich-Beheimatens ein. Nach zehn Jahren gibt es kaum mehr eine Binnenwanderung zurück.“

Birgit Aigner-Walder, Volkswirtin am Alternsforschungszentrum IARA der FH Kärnten

Gleichzeitig sinken die Einnahmen der Gemeinden, die die Infrastruktur schwerer erhalten können. Das wiederum könne eine weitere Abwanderung begünstigen. „Es besteht de facto die Gefahr einer negativen Entwicklungsspirale.“ Wie sich der Bevölkerungsanteil im erwerbsfähigen Alter von 2002 bis 2023 in Österreich entwickelte, zeigt die interaktive Karte.

Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) 2023. © Statistik Austria | ORF
Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (20 bis 64 Jahre) 2002. © Statistik Austria | ORF

Konkurrenz zwischen Gemeinden

Beim Österreichischen Gemeindebund steht das Thema seit Jahren auf der Agenda. Vor allem die Abwanderung von jungen Frauen stelle in vielen Regionen ein Problem dar, heißt es bereits im „Zukunftsbericht 2022“ des Gemeindebundes: „Der ländliche Raum wird zunehmend alt und männlich.“

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„Es gibt große Herausforderungen“, sagt Gemeindebund-Präsident Johannes Pressl im Gespräch mit ORF Topos, etwa im Mobilitätsbereich und der Altenpflege. Teilweise entstehen Konkurrenzverhältnisse zwischen einzelnen Gemeinden, etwa wenn es um die Besetzung von Landarztpraxen geht. „Da werden dem Arzt halbe Häuser zur Verfügung gestellt, damit er sich für die Gemeinde entscheidet.“

Besonders von Abwanderung betroffen sind inneralpine und alpine Regionen und die Mur-Mürz-Furche, wo einst große Industriebetriebe angesiedelt waren. Starke Pendlerbewegungen gebe es zudem im Weinviertel und im Südburgenland, so Pressl.

In größeren Einheiten denken

Anstelle eines Kampfes um Einwohner und Einwohnerinnen oder Ressourcen auf Gemeindeebene seien Kooperation und Denken in größeren Räumen zielführender, meint Aigner-Walder und fordert übergeordnete Konzepte für strukturschwache Regionen. Man müsse weg vom Anspruch, jede Infrastruktur in der kleinsten administrativen Einheit zu erhalten, hin zu regionalen Versorgungsknoten mit funktionierender Infrastruktur und guter Anbindung an Zentren.

Wichtig sei, dass der Fokus nicht auf der Verhinderung von Abwanderung, sondern auf der Förderung von Zuzug liege, betont die Volkswirtin im Hinblick auf den Umstand, dass primär junge Personen aufgrund von Bildung und Jobs wegziehen. „Das ist ja grundsätzlich positiv, denn bei einer Rückkehr bringen die Menschen auch Wissen mit.“

Gründe für Zuzug

Insbesondere, wenn es um die Themen Familiengründung und Hausbauen geht, spielen viele mit dem Gedanken, die Stadt wieder zu verlassen. Momentan profitiere davon vor allem das städtische Umland, manche „Speckgürtelgemeinden können sich vor Anfragen kaum retten“, erzählt Pressl.

Es gebe auch vermehrt den Wunsch, in der Pension aufs Land zu ziehen, merkt Aigner-Walder an. Und auch die aufgrund der Klimakrise steigende Hitze in den Städten könne zukünftig die Binnenwanderung beeinflussen. Hier sei entscheidend, wie Städte darauf reagieren und welche Anpassungen möglich sind.

Positive Aspekte

Eine weitere Perspektive in dieser Debatte formuliert Erich Striessnig, Professor für Demografie und nachhaltige Entwicklung an der Universität Wien. Im Hinblick auf die dringend erforderliche sozioökologische Transformation sei es nicht unbedingt etwas Negatives, dass es zu einer Verlagerung der Bevölkerung in die Städte kommt.

Die Bevölkerungsentwicklung ist in Österreich sehr unterschiedlich verteilt. Während die Städte generell wachsen, schrumpft der ländliche Raum und altert dabei auch noch.

Erich Striessnig, Professor für Demografie und nachhaltige Entwicklung der Universität Wien

„An sich ist es etwas Positives, dass wir Wege verkürzen, Verkehrsaufkommen reduzieren und Flächenverbrauch sowie Zersiedelung eindämmen“, so Striessnig gegenüber ORF Topos. Natürlich müsse man den Übergang kontrolliert und mit viel Vorsicht und Sensibilität managen, damit nicht Menschen auf der Strecke bleiben. Insbesondere im Pflege- und Mobilitätsbereich brauche es hier Anstrengungen. Nicht zu vergessen seien aber auch die vielen Vorteile, die auf dem Land herrschen, etwa die bessere Luftqualität und die in Österreich höhere, ländliche Lebenserwartung.

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Das Dorf 2.0

Was in den Gesprächen mit den Fachleuten immer wieder fällt, ist das Schlagwort Digitalisierung. Die Erwartungen an digitale Möglichkeiten sind vielfältig, in der Realität zeigen sich taugliche Beispiele. So berichtet Pressl von Rufbussen, die per App organisiert werden, und so als Ersatz für den vielerorts schwer finanzierbaren öffentlichen Verkehr dienen.

Eine weitere Diskussion drehe sich um den Erhalt von Bankomaten, für die sich der Gemeindebund einsetzt. Langfristig gesehen könnte der digitale Euro – eine elektronische Form von Bargeld – in gewissen Regionen aber Abhilfe schaffen, so Pressl. Bei der Gesundheitsversorgung müsse zukünftig die Telemedizin eine größere Rolle spielen, automatisierte Selbstbedienungsläden können als Nahversorger dienen.

Wir brauchen digitale Lösungen im ländlichen Raum, durch die wir verloren gegangene Funktionen wieder zurückbekommen. Und wir werden digital auch vieles probieren müssen, um schließlich an die menschlichen Bedürfnisse angepasste Lösungen zu finden.

Johannes Pressl, Gemeindebund-Präsident

Von einer langfristigen Verschlechterung der Lebensmittelnahversorgung in kleinen, peripheren Gemeinden – etwa in Ober- und Niederösterreich – ist in einer RegioData-Analyse die Rede, die im Juli 2024 veröffentlicht wurde. Als Gegenmaßnahmen werden zwei Strategien vorgeschlagen: zum einem ein automatisierter Verkauf ohne Personal, zum anderen eine Funktionsmischung, insbesondere zwischen Gastronomie und Einzelhandel.

Remote-Arbeit: Unklare Zukunft

Ein nicht ganz neues Beispiel für digitale Lösungen ist das remote Arbeiten, das vor allem seit der Corona-Pandemie eine enorme Verbreitung erfahren hat und ein ortsunabhängiges Arbeiten ermöglicht. Momentan sei jedoch eine Kehrtwende zu beobachten, viele Unternehmen würden wieder von Homeoffice und Remote-Work abrücken, merkt Striessnig an. Je nachdem, wie sich der Trend weiterentwickle, könne es hier langfristige Effekte für den ländlichen Raum geben.

Dafür notwendig ist ein flächendeckender Breitbandausbau – für den Gemeindebund-Präsidenten Pressl generell eine Grundvoraussetzung, wenn es um die Zukunft des ländlichen Raums geht.

Vom Verlierer zum Gewinner

Der Regionalforscher und Berater für Regionalentwicklung, Michael Beismann, sieht den ländlichen Raum sogar als Gewinner der digitalen Revolution. Die letzten drei Revolutionen – die Industrialisierung, die Transformation zur Dienstleistungsgesellschaft und die Globalisierung – habe der ländliche Raum als Verlierer durchlebt. Nun könne es zu einer Trendumkehr kommen.

Dass unterschiedliche Entwicklungen parallel verlaufen, zeigt ein Blick in den europäischen Alpenraum, mit dem sich der Regionalforscher seit Jahrzehnten beschäftigt. In den umgebenden urbanen Zentren registriert Beismann eine steigende Bereitschaft, den ländlichen Raum neu zu entdecken. „Dabei geht es nicht um eine museale Erhaltung des Landlebens, sondern um eine aktive Nutzung und damit Weiterentwicklung“, so Beismann, der davon überzeugt ist, dass sich dieses Interesse in den kommenden Jahren weiter verstärkt.

„Wenn etwa nur ein Bruchteil der Menschen in der Millionenstadt Mailand den ländlichen Raum in ihrer näheren Umgebung wiederentdecken, könnten Dörfer mit Tausenden Interessenten konfrontiert werden.“ Zudem sieht Beismann großes Potenzial im Tourismus. „In jedem Ort liegt etwas brach, ich muss nur herausfinden, was es ist.“

Tourismus als Zugpferd

Auch Pressl streicht die Bedeutung des Tourismus hervor. Durch „Leuchtturmprojekte“ können Regionen neue Zugkraft und Frequenz entwickeln. Als Beispiel nennt Pressl die Gemeinde Moorbad Harbach im Bezirk Gmünd, wo ein Gesundheits- und Rehabilitationszentrum errichtet wurde.

Für Striessnig stünde eine ausschließliche Konzentration auf die Tourismusstrategie für Abwanderungsgemeinden auf sehr wackeligen Beinen. „Der Rückzug in eine Dirndl- und Lederhosenseligkeit, der in manchen ländlichen Regionen dazu genutzt wird, um den Tourismus anzukurbeln, kann durchaus gelingen und neue Arbeitsplätze schaffen“, so der Demograf. Doch die Corona-Pandemie habe die Krisenanfälligkeit der Branche gezeigt, plötzlich fehlte ganzen Regionen die ökonomische Grundlage.

Lebendiges Dorf

Neben dem Tourismus ist auch das Thema Zweitwohnsitz eines mit Vor- und Nachteilen. Positiv zu erwähnen sei hier, dass Zweitwohnsitze „in wirklich ausgestorbenen Gegenden sogar als Katalysator für ein Dorf wirken können“, so Beismann. Sie bringen erstes Geld – etwa für die Sanierung der Infrastruktur – und Dynamik in den Ort und können weiteren Zuzug ermöglichen. Es gebe aber auch negative Seiten, vor allem, wenn Zweitwohnsitze Überhand nehmen, Gentrifizierungsprozesse in Gang setzen, Wohnraum verteuern und „Schlafgemeinden“ entstehen.

Viele Bürgermeisterinnen und Bürgermeister seien zwar froh, dass durch die zeitweise Bewohnung Gebäude instand gehalten bleiben, berichtet Pressl. Doch für ein lebendiges Dorf brauche es eine funktionierende Gemeinschaft, die sich mit dem Ort identifiziert und auch ganzjährig hier lebt und arbeitet.

Das spiegelt sich auch in den Gesprächen, die ORF Topos mit Menschen am Oktoberfest in Hartberg geführt hat: Vor allem der Zusammenhalt und dass „jeder jeden kennt“ macht für viele das Landleben so liebens- und lebenswert.

Synthiepop und Hip-Hop statt Schlager

Dass das Veranstaltungsangebot auf dem Land mehr als Bierzelte zu bieten hat, zeigt sich etwa im von Hartberg ca. 150 Kilometer entfernten Knittelfeld. Zwischen 25. Oktober und 2. November bringt das Festival Communication 24 anlässlich 800-Jahre-Knittelfeld Musik, Performances und Ausstellungen in die Stadt. „Popkultur und Politik, lokale Traditionen und progressive, internationalere Ansätze sollen im Rahmen von Communication 24, so der konsequente Titel, in einen Dialog treten“, schreibt FM4 über das Festival.

Was der im Mühlviertel aufgewachsene Kabarettist Kaltenbrunner jedoch in letzter Zeit bemerkt, ist eine wachsende Intoleranz bei Erwachsenen gegenüber jungen Menschen, die sich anders kleiden. „Wenn du anders aussiehst oder dich anders stylst, kann das am Land schon problematisch sein.“

In seiner Jugend habe er hingegen keine negativen Erfahrungen gemacht, wenn er „mit weiter Baggyhose über den Acker gelaufen“ ist oder mit Hip-Hop-Gewand beim Zeltfest war. „Ich glaube, dass das schon ein Grund sein kann, in die Stadt zu ziehen, wo man weniger auffällt. Du möchtest ja nicht immer bewertet werden.“

Quelle: Die Stadt-Land-Kluft bei den Jungen – ORF Topos

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