Bei einer Trauerfeier am Donnerstagnachmittag, den 17. Juni 2021 haben Familie, Freunde, Kolleginnen und Kollegen sowie Vertreterinnen des offiziellen Österreich am Wiener Zentralfriedhof von der am 4. Juni im Alter von 96 Jahren verstorbenen Schriftstellerin Friederike Mayröcker Abschied genommen. Anschließend wurde sie in einem Ehrengrab der Stadt Wien beigesetzt, in dem bereits ihr im Jahr 2000 verstorbener Lebensgefährte und Dichterkollege Ernst Jandl seine letzte Ruhe gefunden hat.
„Das Archiv des poetischen Augenblicks ist verwaist“, sagte Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer (Grüne) in ihrer Rede. Sie würdigte ein Lebenswerk von großer Schönheit und Strahlkraft, das in ihrer „Zettelhöhle in der Zentagasse“ entstanden und in Anspruch und Radikalität einzigartig sei. Sie habe in ihrer bescheidenen Wohnung in Wien-Margareten inmitten von Büchern, Zetteln und Körben voller Notizen auf einer Hermes Baby poetische Welten entworfen, die zwar mit den 26 Buchstaben unseres Alphabets auskommen, aber nie zuvor auf diese Weise geschrieben worden sind und zu lesen waren. Friederike Mayröcker wird bleiben, was sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang war, ein hell leuchtender Fixstern am Himmel der Gegenwartsliteratur. Wir verneigen uns vor einer einzigartigen Dichterin“, schloss sie.
Wiens Kulturstadträtin Veronica Kaup-Hasler (SPÖ) erinnerte sich an ihr letztes Telefonat mit der Dichterin im Dezember des Vorjahres, unter dem Eindruck des Terroranschlags, bei dem sie über das Verstummen der Sprache gesprochen hatten. Mayröcker sei eine „wunderbare Ausnahmedichterin“, eine „ikonische Erscheinung“, „ein zärtlicher und schüchterner Punk“ gewesen. „Das Schreiben wurde zur Beglaubigung ihrer Existenz.“ – „Sie träumte in Worten und Sätzen“, die sie auf Zetteln zu Papier brachte: gleichsam „maximale Konzentration durch maximale Verzettelung“. Der deutsche Dichter Marcel Beyer, Mitherausgeber von Mayröckers gesammelter Prosa und Herausgeber ihrer Gesammelten Gedichte erinnerte sich an Begegnungen mit Mayröcker, aber auch daran, dass man „im Juni vor 21 Jahren“ an exakt der gleichen Stelle von Ernst Jandl Abschied genommen habe.
Die Anteilnahme nach dem Tod von Friederike Mayröcker ist groß. „Ganz Wien trauert um die Doyenne der österreichischen Literatur und Wiener Ehrenbürgerin Friederike Mayröcker“, reagierte der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ). „Das Oeuvre von Friederike Mayröcker ist so gewaltig, als hätte sie dafür viele Leben zur Verfügung gehabt.“
Zahlreiche weitere politische Vertreter würdigten die Verstorbene. „Die Grande Dame der österreichischen Literatur ist nicht mehr. Heute hat Friederike Mayröcker ihren Stift für immer niedergelegt“, reagierte Bundespräsident Alexander Van der Bellen auf die Todesmeldung der „wohl wichtigsten österreichischen Autorin“. „Die unaufdringliche Eleganz ihrer Texte hat uns reich beschenkt“, so das Staatsoberhaupt
Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren, wo sie nach privater Volksschule, Hauptschule und Kaufmännischer Wirtschaftsschule die Lehramtsprüfung in Englisch ablegte. 1950 holte sie extern die Matura nach. Von 1946 an war Mayröcker als Englischlehrerin an Wiener Knaben- und Mädchenhauptschulen tätig, im Jahr 1969 ließ sie sich zugunsten einer Karriere als freie Schriftstellerin vom Lehrberuf beurlauben. Seit 1977 lebte sie in Frühpension. Seit 1954 war sie in einer kongenialen künstlerischen Partnerschaft mit dem Autor Ernst Jandl, die erst mit dessen Tod im Jahr 2000 endete.
Rund 100 Werke veröffentlichte Mayröcker zeitlebens. Lyrik, Prosa, Theaterstücke, Hörspiele und Kinderbücher – kein Genre war dieser Grand Dame der Literatur fremd.
Erste literarische Arbeiten entstanden bereits 1939, zu Veröffentlichungen kam es erst nach 1945, als Otto Basil seine 1938 von den Nationalsozialisten verbotene Zeitschrift „Der Plan“ wiederbegründete und junge Talente förderte. So wurde die Einschätzung „Gut wie Mayröcker“ bald zu einem Prädikat, das bei der literarischen Avantgarde im Nachkriegswien keiner weiteren Erläuterung bedurfte. Mayröckers Gedichte finden sich in namhaften Anthologien wie „Die Sammlung“, „Stimmen der Gegenwart“, „Wien von A bis Z“, „Weg und Bekenntnis“, „Ernstes kleines Lesebuch“ sowie „Geliebtes Land“.
Sie veröffentlichte 1956 ihr erstes Buch unter dem Titel „Larifari: Ein konfuses Buch“ im Bergland-Verlag in Wien. 1968 gewann sie mit Ernst Jandl den wichtigen „Hörspielpreis der Kriegsblinden“. Daraufhin folgten unzählige deutschsprachige Literaturpreise, darunter der Georg-Trakl-Preis (mit Reiner Kunze) im Jahr 1977, der Große Österreichische Staatspreis 1982, der Friedrich-Hölderlin-Preis 1993 und der Georg-Büchner-Preis 2001, der wohl wichtigste deutsche Literaturpreis. Ihr literarisches Zuhause war der Suhrkamp-Verlag.
Legendär geworden war Mayröcker, die großen Einfluss auf die Gegenwartsliteratur ausgeübt hat, wenngleich sie nur wenig gelesen wurde, aber schon Jahrzehnte zuvor. Eben aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Ernst Jandl, der einen Stock höher in der Zentagasse lebte.
Ein biografisch besonders berührendes Buch legte Mayröcker mit „Und ich schüttelte einen Liebling“ (2005) vor, das sie ihrem Lebens- und Schaffenspartner Ernst Jandl widmete. Ihrem „Requiem für Ernst Jandl“ (2001), unmittelbar nach dessen Tod geschrieben, verdanke sie sogar ihr Leben: „Ich habe mir nicht gedacht, dass ich ohne ihn weiterleben könnte. Bald sind es zehn Jahre, dass er tot ist. Der große Schmerz ist nicht mehr da. Aber die große Sehnsucht, ihn noch einmal zu sprechen, ihn noch einmal zu sehen.“
2016 erhielt sie als erste Autorin den neu geschaffenen Österreichischen Buchpreis für „fleurs“, das mit den Bänden „études“ (2013) und „cahier“ (2014) eine Art poetische Trilogie bildet. Der im Frühjahr 2018 erschienene Band „Pathos und Schwalbe“ versammelt Texte, die auf Notizen während eines längeren Krankenhausaufenthalts im Jahr 2015 zurückgehen.
Mit ihrem jüngsten Tagebuchband „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ war sie noch in diesem Jahr für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, der erst vor wenigen Tagen verliehen wurde. An der digitalen Verleihung konnte die Schriftstellerin schon nicht mehr teilnehmen.
Die Anzahl literaturwissenschaftlicher Arbeiten, die sich mit der Interpretation und Entschlüsselung von Mayröckers Texten beschäftigen, ist inzwischen kaum mehr überschaubar. 2009 wurden Autorin und Werk unter dem Titel „Das Schreiben und das Schweigen“ von der Dokumentarfilmerin Carmen Tartarotti porträtiert. Ein Teil des Verlasses von Friederike Mayröckers befindet sich in der Handschriftensammlung der Wienbibliothek im Rathaus und ein Teil wurde 2019 von der Österreichischen Nationalbibliothek erworben.
Quellen:
Friederike Mayröcker – Wien Geschichte Wiki
Dichterin Friederike Mayröcker in Ehrengrab beigesetzt | SN.at
Friederike Mayröcker: In ihren Träumen ist sie high | kurier.at
Autorin Friederike Mayröcker gestorben | Nachrichten.at
„Ausnahmedichterin“: Abschied von Friederike Mayröcker | Nachrichten.at
Grande Dame der Literatur: Friederike Mayröcker ist tot | Kultur | DW | 04.06.2021
https://www.buecher.at/friederike-mayroecker-verstorben/
https://www.nachrichten.at/kultur/autorin-friederike-mayroecker-gestorben;art16,3409005