Tijan Sila ist der Träger des Ingeborg-Bachmann-Preises 2024. Sein Text, der das Schicksal und die Entwurzelung der eigenen Familie im Schatten des Bosnien-Krieges thematisierte, überzeugte die Jury offenbar eindeutig. Zustand der Gesellschaft statt Exzesse in der Selbstbespiegelung schien heuer das Motto bei den 14 Texten, die ins Rennen geschickt wurden. Die Jury schenkte sich freiherzig ein wie schon lange nicht. Und am Preisverleihungstag verhedderten sich alle beim neuen Livevoting-Vorgang.
„Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“ ist der beste Text des heurigen Ingeborg-Bachmann-Preises. Autor Sila, vorgeschlagen von Juror Philipp Tingler, erhielt die höchste Auszeichnung bei den 48. Tagen der deutschsprachigen Literatur.
Er sei „beeindruckt vom Ton“, der in diesem Text angeschlagen wurde, lobte Juror Tingler in seiner kurzen Laudatio. Katastrophen der Vergangenheit und Zukunft zeichneten sich in diesem Text ab, der aus einer sehr direkten Perspektive die Geschichte einer Familie erzähle. Sila hatte einen von zwei Texten beim Wettbewerb präsentiert, die sich mit der Geschichte des zugrunde gegangenen Jugoslawiens und der Auswirkung auf Familien beschäftigten.
„Ich spürte die Panik in meinem Brustkorb, spürte, wie sie meine Rippen hin zur Kehle hochkletterte – und unterdrückte sie, denn ich war geübt darin, Panik zu trotzen. Wo ist eigentlich mein Vater?, fragte ich mich, während meine Mutter mir die Tage und Orte aufzählte, an denen sie Dina gesehen hatte. Ich blickte mich nach ihm um und sah ihn im Flur stehen. Er wirkte entsetzt. Damals im Krieg hatte einer meiner Schulkameraden, ein Junge namens Mustafa, das rechte Bein verloren. Ich war nicht dabei, als es passierte, aber ich sah ihn kurz nach dem Granateneinschlag, und Mustafa starrte seinen verkohlten Kniestumpf mit demselben Unglauben an wie mein Vater jetzt mich: Das soll Realität sein? Dieses Grauen?„
Tijan Sila: „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“
Preisträger zeigt sich überwältigt
„Euphorie und Unglaube stehen sich gerade gegenüber“, so Sila bei seinen ersten Worten nach der Preisübergabe. Er habe sich „gerecht und hellsichtig beim Wettbewerb besprochen gefühlt“, so Sila, der die Erfahrung mit einem biografischen Familientrauma als Ausgangspunkt seiner Erzählung nennt. Dennoch, so fügt er hinzu, Trauma und Krise seien nicht der Hauptauftrag für sein Schreiben, eher die Balance zwischen dem Tragischen und dem Komischen.
Die Frage nach dem Er ist auch die Frage nach dem Wer?
Das Thema der Krise zog sich jedenfalls so gut wie durch alle Texte, egal ob die Texte in Ich- oder Wir-Form verfasst waren. Dass ein Mann heuer gewinnen würde, war vermutet worden. Wobei die Jury nicht mehr ganz sicher ist, wer oder was als Mann zu gelten habe und wer nicht.
Und wer ist Wir?
Tatsächlich nahmen viele der Texte den breiteren Zustand der Gesellschaft in den Blick und kehrten vom starken Trend der letzten Jahre, dem einer Selbstbefindlichkeitsliteratur, ab. „Ich finde es so spannend, dass heuer so viele Texte im ‚Wir‘ gehalten sind“, freute sich Jurorin Mithu Sanyal über den letzten Beitrag von Štajner, um rasch von Tingler korrigiert zu werden: „Entschuldigung, das ist eine Ich-Erzählung.“
Das Wir wurde tatsächlich im aufsehenerregenden Text „Eine Treppe aus Papier“ von Szántó bedient, der eindrucksvoll niederschwellig an Leistungen des Romans der Moderne anknüpfte. Das Gros der Texte war auch bei diesem Wettbewerb in der Ich-Form gehalten, doch in den seltensten Fällen bedeutete das eine Ich-Zentrierung oder Ich-Bespiegelung. Humor war bei diesem Wettbewerb tatsächlich auch mit im Feld, etwa als die Österreicherin Sebauer am Beispiel der Essiggurke die Mechanismen der Erregungsgesellschaft und klassische journalistische Verhaltensmuster auf die Schaufel nahm.
Emotionale Momente
Die Musikerin und Autorin Štajner ließ das Publikum mit einem briefhaften Text zwischen Mutter und Tochter über persönliche und gesellschaftliche Gewaltanwendung im Finale des Wettbewerbs noch einmal die Luft anhalten. Ihr Text überwältigte die Autorin selbst, stellte aber einmal mehr wie so oft beim Bachmannpreis die Frage, ob nun der Text allein oder ein Gesamtauftritt zu beurteilen sei.
Dem Geist Ingeborg Bachmanns nahezukommen hält Kastberger auch in der Gegenwart für ein relevantes Kriterium. „Ich halte sie mehr denn je für eine Autorin, die uns in der Gegenwart sehr viel zu sagen hat“, so der in Graz lehrende Germanist im Vorfeld des Wettbewerbs gegenüber ORF Topos.
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